Beim Stöbern durch den Rother fiel mir vor ein paar Tagen Route 29 auf: Schwarz, 7h. Also eine der kürzeren schwarzen Touren. Außerdem mit dem Attribut „Top“ versehen und auf Skye. Ich hegte Hoffnung, Ute dafür begeistern zu können und las mal den Text vor.
Briten seien die unangefochtenen Weltmeister im Understatement, erfuhren wir. Da sich die Rother Autoren den Gewohnheiten des Gastlands anpassen wollten, hat es diese Route in den Wanderführer geschafft. Sie gilt hierzulande als „hillwalk“ mit einigen Passagen „scrambling“. Also eine Bergwanderung mit einigen Passagen, an denen man die Hände aus den Taschen nehmen könnte.
Die Autoren führten weiter aus, dass es sich mitnichten um eine Bergwanderung handelt, sondern um eine Klettertour, immerhin eine leichte. Definitiv aber die schwerste Tour in diesem Buch. Ute schaute mich an als hätte sie einen Geist gesehen. Das konnte ich doch unmöglich ernst meinen?
Ich las weiter. Über die Pinnacle Ridge, also den Zackengrat, geht es auf den Sgurr nan Gillean. Einen 3000er. Natürlich in Fuß gemessen. Damit ist der Berg einer der begehrten Munros. Ein Minister dieses Namens nutzte seine wertvolle Zeit dafür alle 3000er in Schottland zu katalogisieren und seither ist es ein Volkssport, Munro’s zu „baggen“, also einzusammeln. Mit dem Ben More haben wir bereits einen in der Tasche. Fehlen noch 281.
Weiter im Text: Klettern bis maximal Grad III, etwa 4 Stunden lang über 4 Zacken, von einer seilen die meisten etwa 25m ab statt abzuklettern, auch erfahrene Alpinisten seilen sich auf der Tour gerne an.
Also technisch sollten wir das hinkriegen, Seil wäre dabei, Grad 5 sind wir beide schon geklettert. Erwartungsvoll schaute ich zu Ute. Weit aufgerissene Augen schauten mich an. Nicht begeistert? Also ich fand die Beschreibung gut, besonders den Teil mit dem Understatement. Das hat doch was. Delightful hillwalk, a little scrambing, klingt doch richtig nett?
Heute ist es soweit. Unser Campingplatz liegt am Fuße des Sgurr nan Gillean, Tour 29 startet direkt hier. Ich versuche es nochmal.
Ute lässt sich von meiner Begeisterung nicht anstecken. Das kann ich gerne alleine machen, sie liest dann endlich mal im Buch, dass wir schon zwei Wochen durch die Gegend fahren. Und den Blog will sie auch weiterlesen, „den liest sie gern und weiß dann auch was wir alles Aufregendes gemacht haben“. Jetzt habe ich die aufgerissenen Augen und breche in Lachen aus.
Also gut, dann eben alleine. Das Understatement lasse ich mir nicht entgehen. Ute will mitgehen bis das „scrambling“ losgeht.
Ich packe meinen Rucksack für eine Tagestour und dazu eine Kopflampe. Könnte ja sein dass der Tag nicht reicht. Man weiß ja nie. Wir laufen los.

Ich erwische den falschen Einstieg, und wir laufen erstmal weglos durch eine sehr nasse Wiese. Es hat heute Nacht viel und ausdauernd geregnet mal wieder. Zum Glück war der Wind nicht so stark, und Ute konnte immerhin etwas schlafen.

Die Wolken haben sich noch nicht ganz verzogen. Der Sgurr nan Gillean ist noch in die selbigen gehüllt, ich hoffe dass die sich noch auflösen. Ich habe keine Ahnung was die Schotten unter scrambling genau verstehen. Im Nebel möchte ich das ungern herausfinden…

Wir kommen an einem Wasserfall vorbei. Sieht toll aus, vielleicht etwas Canyoning auf dem Rückweg? Auf den ersten Blick könnte das ein 5/6m Sprung sein. Erstmal aber will der 2. Munro verdient werden.
Das nächste Hindernis ist eine Brücke ohne Geländer. Ute verweigert. Wenn ich sie rübergeleite, bringt dass ja nix, sie muss da ja spätestens auf dem Rückweg alleine drüber.

Aber jetzt schon trennen? Ich schlage vor, es auf allen 4en zu probieren. Das funktioniert.

Mit gesichertem Rückweg können wir noch ein Stück gemeinsam laufen. Es fängt nochmal an zu regnen. Der Weg verwandelt sich in ein Bachbett.

Ich finde das nächste „boghole“. So heissen hier diese Matschflecken, die unerwarteten Tiefgang haben. Schottische Spezialität, können bis zur Hüfte reichen. Ich verschwinde nur bis über den Knöchel darin.

Kurz darauf trennen sich unsere Wege. Ute macht sich auf den Rückweg, und ich fange an, etwas zu scramblen. Sehr entspannt, die Hände können noch in der Tasche bleiben und müssen nur raus um mal den Wasserfall abzulichten.

Ich gewinne an Höhe und traversiere in die Nordflanke.


Es wird steiler und die Hände müssen dauerhaft aus den Hostentaschen. Jetzt geht es wohl ernsthaft los mit dem scrambling.

So recht weiß ich nicht was mich erwartet, die Tourbeschreibung war recht knapp, wie steil und vor allem lang die Kletterpassagen sein werden, kann ich auch nicht einschätzen. Ich habe ein paar Klemmkeile dabei um mich ggf zwischenzusichern, aber im Moment geht es noch so. Die einzelnen Zacken sind im GPS nicht markiert, so fällt es schwer die eigene Position zu bestimmen. Ich folge grösstenteils erkennbaren Begehungsspuren und blicke ein ums andere Mal in unerwartete Abgründe. Die Kletterpassagen beschränken sich auf maximal 3m und es gibt reichlich Tritte und Griffe in sehr griffigem Fels.
Ab und an ist mal ein lockerer Stein dabei und das Wasser rinnt stellenweise von oben herab. Man hat respekteinflössende Tiefblicke und exponierte Traversen, in den Taschen bleibt hier nur die Kamera, die Hände bleiben beide am Fels.
Ein erstes lokales Maximum ist erreicht, ist das schon eine der vier Zacken? Ich mache erstmal ein Päuschen und esse einen Apfel.
Eine Nebelschwade kommt mit ziemlichem Tempo über einen Kamm und auf mich zu. Das gibt mir ein unmittelbares Gefühl von Dringlichkeit und ich beende die Pause vorzeitig.

Nachdem es einige Male auf und ab gegangen ist, blicke ich mal wieder in einen Abgrund. Upps. Das sieht steil aus. Mich beschleichen Zweifel ob ich richtig bin. Mit Ute wäre ich jetzt damit beschäftigt sie durch die Tour zu lotsen, alleine habe ich plötzlich die Aufgabe mein eigenes Kopfkino im Zaum zu halten. Das ist stellenweise nicht ganz einfach. Ich taste mich langsam weiter an den Abgrund bis ich bis unten sehen kann. Nicht kletterbar. Zumindest nicht für mich mit meinen boghole getauchten Bergstiefeln bei Nässe. Shit. Bin ich irgendwo falsch abgebogen? Ich schaue mich um. Rechts von mir könnte es kletterbarer sein, aber um hinzukommen muss ich wieder ein Stück rauf. Von oben sieht das nicht mehr so kletterbar aus, und es geht ordentlich abwärts. Bestimmt 20 Meter im 3. Grad und wenn man abrutscht geht’s recht direkt in den Canyon vom Aufstieg.
Was nun, denke ich, und seh oben etwas nicht natürliches. Da hängt eine Abseilschlinge. Die war in der Beschreibung erwähnt. Es passt mit dem was ich sehe zusammen, aber ich hatte das hier nicht erwartet. Bin ich wirklich schon am 3. Pinnacle? Ich glaube das nicht, sehe aber auch keine Option anders weiterzukommen und seile ab.


Am Ende vom Seil sieht es nach Begehungsspuren aus. Ich seile bis runter ab, und schaue mich um. Sieht nach kleinem Sattel aus. Sehr klein. Nach rechts ein schmales Band mit Begehungsspuren das im Rother nicht erwähnt war, nach links müsste ich zwei Meter aufsteigen um zu sehen was da kommt.
Ich beschließe das es so oder so weitergeht und da ich offensichtlich nicht der erste hier bin, ziehe ich das Seil ab. Mulmiges Gefühl.
Ich entscheide mich für das schmale Band am Abgrund und komme dort gut weiter. Es fühlt sich an als würde ich eine Zacke umrunden statt zu überklettern, und die Option ist im Rother nicht erwähnt, aber definitiv ein häufig begangener Weg. Eine Stelle zwingt mich nah an den Abgrund und das Band auf dem ich laufe wird verdammt schmal, dahinter geht es definitiv weiter. Ich hangele mich dran vorbei.
Nach der Umrundung geht es steil bergauf. Es wird fleißig gescrambled, aber es gibt genug Optionen und gute Griffe, zudem ist kein Abgrund mehr in Sicht. Ich finde problemlos eine Route weiter nach Oben. Dann sehe ich einen Kletterhelm. Ich bin nicht alleine hier oben. Ein verdammt gutes Gefühl.
Kurz drauf stehe ich auf dem Gipfel. Was für ein Gefühl.


Kurz nach mir kommt eine Seilschaft an. Bergführer und Kundin. Ich frag mal nach: ja ich bin richtig und der 4. pinnacle wird üblicherweise umrundet. Runter geht es über den Ostgrat, Normalweg, kleiner hillwalk, little scrambling🤣 Ich bin erleichtert. Das Schwierigste liegt hinter mir.
So kann ich entspannt vespern und die Aussicht genießen. Eine Wolke zieht über den Westgrat und schafft eine tolle Atmosphäre. Dringlichkeit ist kein Teil dieser Atmosphäre. Ist ja nur noch ein kleiner hillwalk nach unten. Bisschen scrambling vielleicht.
Jedes Gipfelglück muss irgendwann enden, und so schiebe ich das Unvermeidliche nicht länger auf.
Nachdem der gratige Teil überwunden ist, geht der Abstieg schnell in eine Block- und dann eine Geröllhalde über. Und ermöglicht einen Seitenblick auf die Zacken über die ich aufstieg.

Pinnacle Ridge

Ich texte Ute ob sie mir nicht entgegen kommen will. Wir treffen uns an der Brücke. Ute kommt mir breit grinsend und aufrecht auf der Brücke entgegen.

Sie hat auf dem Rückweg ihr Gehirn ausgetrickst. Wanderstöcke in die Hand, schon dachte das Organ es gibt was zum Festhalten, und ermöglichte die aufrechte Überquerung. Nach 3 Wiederholungen geht es jetzt schon ohne die Wanderstöcke. Ich bin so stolz.
Am Wasserfall angekommen, schaue ich mir das genauer an. Ich könnte eine Abkühlung vertragen. Der Pool vor dem Wasserfall sieht tief aus, aber reicht das für einen Sprung aus 5m?

In Ermangelung von Neopren muss das Adamskostüm herhalten. Ich checke den Pool.


Der Sprung wird abgesagt, aber die Erfrischung bleibt.

Auf dem Rückweg kommen wir an der Bar vorbei und nehmen auf den geglückten Hillwalk, das Hirnaustricksen und die Wiedervereinigung ein schottisches Bier. Alleine auf so einer Tour ist einfach nicht das Selbe. Wir wissen wieder was wir eigentlich aneinander haben. Im Alltag kann man sowas schonmal vergessen. Zum Glück neigen die Briten zum Understatement und zum Glück ließ sich der Rother darauf ein.


Zurück am Campingplatz müssen erstmal die nassen Sachen versorgt werden, dann bestellen wir beim Codfather Fish und Chips. Er arbeitet noch dran aus dem C ein G zu machen, weit kann er davon nicht mehr entfernt sein. Der Mann ist ein Original.

Der Wind ist heute stark genug um die Midges fernzuhalten und schwach genug um es wärmetechnisch draußen auszuhalten. Das Open Air Essen ist bisher doch etwas zu kurz gekommen.

Ute hat ein neues Lieblingsgetränk: T, gerne zu verwechseln mit Tee 😎. Sie fragt mich, ob die Tour wirklich so toll war, wie der Rother schreibt: „Für den Könner ein berauschendes Erlebnis“. Ich habe darauf keine Antwort. War die Tour toll? Die Aussicht war zweifelsfrei top, aber war es berauschend? Ich fühle mich nicht als hätte ich eine berauschende Tour gemacht. Erst beim Zähneputzen komme ich drauf was zum Qualitätsprädikat gefehlt hat: Ute. Die Tour ist definitiv top – wenn man das Erlebnis mit jemandem teilen kann der einem sehr am Herzen liegt.