Beinn Nibheis

heißt auf Gälisch (der schon schwer lesbaren Sprache der Ureinwohner) vermutlich soetwas wie Kopf in den Wolken und ist der höchste Berg in Schottland und auch gleich auf der ganzen Insel. Nach neuen Messungen aufgerundet 1335 Meter hoch. Höher kann man auf der Insel nicht hinaus.

1335 Meter klingen natürlich etwas mickrig, und da man dem Festland ungern nachstehen will, misst man hierzulande in Fuß. 4413 ft klingt doch gleich viel besser.

Das erklärt auch warum man sich hier mit dem metrischen System so schwer tut. Man hätte auf einen Schlag keine 4000er mehr zum Besteigen.

Eben jener war heute unser Ziel. In viktorianischer Zeit ließen sich die wohlbetuchten gerne per Lasttierkutsche hinaufbefördern, heutzutage ist der ehemalige Weg massenkompatibel befestigt und über weite Strecken in eine Treppe verwandelt worden. Die Demokratisierung der vormals exklusiven Orte führt hier zum Titel des meistbestiegenen Berges der Welt. Auch der Touristenpfad ist jedoch noch eine Unternehmung von 4h Aufstieg und 3h Abstieg. Jedenfalls für Normalsterbliche. Es wird von einem Friseur berichtet der die Strecke in 2h41 laufend bewältigte und 1971 schleppte ein schottischer Holzfäller ein Klavier! auf seinem Rücken für den guten Zweck auf den Gipfel um dort ‚Scotland the brave‘ zu spielen. Was Asterix dazu sagen würde ist überliefert: Die spinnen die Briten.

Nun stand für uns also die Entscheidung an, wie wir auf den Gipfel kommen würden. Touristenpfad mit millionen Anderen oder Rother Tour mit 10h, schwarz und extrem ausgesetzten Stellen. Ersteres sind für mich rote Tücher und letzteres für Ute.

Unsere Diskussion glitt daher schnell in’s infantile ab. Vom trotzigen „Ich mach keine 10h Tour“ bis zum beleidigten „dann fahren wir eben morgen direkt nach Hause“ war alles dabei. Wir vertagten die Entscheidung also auf heute. Der erste Teil des Weges ist in beiden Fällen gleich, also können wir das entscheiden, wenn wir wissen wie wir vorankommen und in der Zeit liegen.

Heute um 6:00 klingelt der Wecker. Ich schmiere Brötchen für Unterwegs und packe die Ausrüstung für so eine Unternehmung zusammen. Alles in meinen Rucksack, wenn die Schotten da Klaviere hochschleppen, dann kann ich auch das Material schleppen und Ute kommt so vielleicht schneller und mit besserer Laune durch die Tour.

Wir fahren an unseren Startpunkt, die Jugendherberge in Glen Nevis. Freundlicherweise dürfen wir dort nicht nur parken, sondern auch noch Ballast abwerfen. Um 8:00 setzen wir uns in Bewegung. Das Ziel macht seinem Namen alle Ehre. Der Kopf ist im Nebel.

Ich bin viel zu warm angezogen, nach den ersten Höhenmetern ziehe ich die Regenjacke aus, kurz drauf auch das dicke Merino Shirt. Was dünneres ist nicht dabei, ich gehe oben ohne weiter.

Wir kommen gut voran. Nach nicht mal 1h30 sind wir bereits am ersten Punkt der Tour auf 644m Höhe und liegen über 30 Minuten vor der vom Rother angegebenen Zeit. Das ist durchaus ungewöhnlich, sonst waren wir meist länger unterwegs als angegeben, und spricht dafür dass die lange Tour eine realistische Option sein könnte. Bisher sind wir erst wenigen Menschen begegnet, so früh ist hier noch nicht viel los und heute scheint einer von über 300 Tagen im Jahr zu sein, an dem der Berg im Nebel verweilt. Das sind zwei Argumente für den Touripfad.

Ich will das gerade vorschlagen, da sagt Ute: Wir können die lange Tour gehen. Aber wie bereits gestern vorgetragen, geht das dann auf meine Kappe, wenn ihr der Grat nicht gefällt oder sie überfordert. Ich schlucke. Allzu präsent ist der Satz „teilweise extrem ausgesetzt“ in der Beschreibung. Außerdem haben wir weglose Auf- und Abstiege durch Wiese und über schotterige Blockhalden zu erwarten. Alles nicht gerade Ute‘s Wohlfühlterrain. Andererseits gilt: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Die guten Erlebnisse sind selten ohne Mühe zu haben und das Risiko am Ende schuld zu sein ist gar nicht so übel, wenn es dann doch ein gutes Erlebnis werden sollte. Daran bin ich gerne schuld. Wir biegen also links ab auf die lange Tour.

Das Half-Way-Loch liegt weder auf halbem Wege, noch heißt es wirklich so. Der gälische Name ist jedoch weder aussprechbar noch merkbar, und wenn man die Kinder mit „schau mal, da ist schon das Half-Way-Loch“ motivieren kann, auch noch die restlichen 2/3 des Weges zu gehen, dann ist der Name doch gleich viel griffiger. Für uns sind gerade mal 20% des Weges geschafft, als wir das Loch links liegen lassen und 200 Meter über eine durchfeuchtete und regennasse Moorlandschaft absteigen. Immer wieder gluckern kleine Bächlein unter der Wiese und man muss aufpassen nicht in sumpfige Senken zu treten. Uns beiden läuft die Nase.

Vielleicht liegt dass an unzähligen Insekten die im Buschwerk lauern und von uns aufgestoben werden. Es summt um uns herum. Uns kribbelt es.

Bis wir das Tal erreicht haben sind die Hosenbeine nass und unsere Schuhe haben beide den Kampf gegen das Wasser verloren. Eigentlich sind die wasserdicht, aber stundenweise durch triefend nasses, tiefes Gras war dann wohl doch zuviel, oder das Wasser ist von der Hose über die Socken reingesickert. Jedenfalls wissen wir nicht mehr ob die schmatzenden Geräusche beim Füße heben vom Schuh im Matsch oder von der Socke im Schuh verursacht werden.

Heute Morgen habe ich mich mit dem auf die Midges angestimmten Mittel eingerieben das auch zu wirken scheint. Obwohl die Luft mit Insekten angereichert ist, merke ich keine Bisse. Ute hat nur das Gesäß eingerieben bevor sie zum Wasserlassen aus dem Bus musste, dass das Gesicht dabei auch frei liegt muss ihr entfallen sein. Heute Morgen am Bus hatte das keine Folgen und fiel daher nicht auf.

Jetzt aber schwirren viele Insekten um sie herum und beißen auch. Das Mückenschutznetz das wir für exakt diesen Fall angeschafft haben, ist noch in Ute‘s Rucksack, der aus taktischen Gründen am Bus blieb. Ebenso das Schutzmittel, das ja bereits heute morgen appliziert wurde. Wir improvisieren und funktionieren das Netz für lose Lebensmittel um, das ich zum Einkaufen immer im Rucksack dabei habe. Es ist etwas eingefärbt durch die Beeren die wir zuletzt darin gesammelt hatten und riecht etwas nach Pilzen, aber es hält die Plagegeister fern.

Ute fragt ungläubig ob ich keine Probleme mit den Viechern habe, ich drehe mich um und verneine. Ute starrt mich an. Mein Gesicht und Hals sind übersäät mit schwarzen Insekten. Ich merke aber nichts davon. Das Schutzmittel überzeugt.

Wir steigen weiter auf, langsam ändert sich die Vegetation, es wird steinig und dann sind wir aus der Insektenzone raus. Durchatmen und auslüften. Wir sind beide nass von Wiese und schweißtreibendem Aufstieg.

Wenig später wird es wie vom Rother versprochen blockig und schottrig.

Kommando: ✋

Hand in Hand können wir das Tempo halten und erreichen den Grat immer noch deutlich vor der vom Rother veranschlagten Zeit. Der Wind weht jetzt wieder kräftig und böig. Ute mahnt zur Vorsicht an der Kante des Grats. Ich meine eine leichte Note von Angst vernommen zu haben. Mir blitzt das Attribut „extrem ausgesetzt“ durch‘s Hirn, und das bezog sich explizit nicht auf diesen eher harmlosen Grat. Mir schwant Übeles für die folgenden Stunden, wir versuchen es mit langsamer Annäherung.

Der Blick über die Kante…
lohnt sich meistens.

Wir haben noch etwa 200 Höhenmeter bis zum ersten Gipfel unserer Tour, dem Carn More Dearg mit 1220m ein schottischer 4000er und ein weiterer Munro. Das Wetter wird schlechter, es beginnt zu regnen und eine Wolke hüllt uns ein. Das Wasser kommt von der Seite. Die laufenden Nasen verlieren im Wind seitlich Tropfen, eine neue Erfahrung. Ob es reines Wasser ist oder durch Regen verdünnter Rotz, bleibt unklar. Basierend auf der Tendenz zum Fäden ziehen und der daraus geschätzten Konsistenz habe ich eine Vermutung, aber keine harten Fakten.

Aus dem Nebel taucht eine Steinpyramide auf, dahinter ein kreisförmiger Steinwall als Wetterschutz. Das muss der 4000er sein.

Wir feiern den Gipfel mit einem Schnäpschen. Bei dem Wetter muss der Gipfelrausch aus der Flasche kommen. Wir überlegen kurz zu Vespern, aber in dem Wind und dem Regen würden wir nur auskühlen. Wir gehen weiter.

Zu früh gefreut…

Ein paar Meter weiter wird klar: dass war nicht der Gipfel. Der kommt erst noch. Es sind noch ein paar Höhenmeter zu überwinden.

Erst jetzt haben wir auch offiziell unseren nächsten Munro in der Tasche.

3/282 und 2/282 Munroist

Das Schnäpschen ist schon weg, aber hier schattet der Gipfel den Wind besser ab und wir machen ein kurzes Vesperpäuschen. Wir sitzen grad, da reißt hinter uns die Wolke auf, die den kommenden Grat bisher verschleiert hatte. Schwarz, steil und messerscharf geschwungen wie der Kamm eines Seeungeheuers zeichnet er sich gegen die weiße Wolke ab.

Mir wird kalt. Ich tippe Ute an und zeige auf den Grat. Da müssen wir rauf? Ich glaube schon, sag ich, und bin auf die Reaktion gespannt. Sie zuckt mit den Schultern: OK. Sie hat die Verantwortung dass wir da hochkommen mir übertragen und damit ist das Thema für sie durch. Wie wir da hochkommen ist mein Problem. Mir ist immer noch kalt. Ich ziehe eine Fleecejacke unter die Regenjacke. Die Wolken reißen weiter auf und geben langsam den Blick auf das vor uns liegende frei.

Für einen kurzen Moment kommt das vom Rother versprochene Sahnestückchen der Tour zum Vorschein. Der Anblick lässt die Mühen des Aufstiegs, das Wasser in den Schuhe und den Wind vergessen. Es hat sich gelohnt den langen Weg zu wählen.

Wir machen uns daran das Seeungeheuer zu reiten. Je näher wir kommen, desto breiter wirkt der Grat. Die Wolken hüllen uns wieder ein und mit uns auch die Tiefe unter uns. Auch der Regen setzt wieder ein. Es gibt einen gut sichtbaren Pfad und Ute turnt direkt los. Verantwortung übertragen funktioniert offenbar ausgezeichnet.

Mir wird klar dass ich mir unter „extrem exponiert“ etwas anderes vorgestellt hatte als das, was wir hier vorfinden. Und Ute kommt völlig problemlos mit dem Seeungeheuer klar. Ich entspanne mich und wir genießen den Grat. Es ist in der Tat das Sahnestückchen der Tour.

Anstrengend zwar, aber sogar im Nebel und bei Regen ein Genuss.

Der Grat wird breiter und geht in die Blockhalde des Ben Nevis über, die letzten Höhenmeter sind nochmal knackig. Im Nebel ist man froh über jedes Steinmännchen das einem bestätigt auf dem richtigen Weg zu sein.

Im Zweilelsfall ist zwar „nach oben“ richtig wenn man den Gipfel sucht, aber dennoch beruhigt so ein Wegzeichen sehr.

Auf dem Gipfelplateau herrscht dichter Nebel. Sichtweite 30m. Keine Menschenseele oder Strukturen erkennbar. Wir finden eine Säule und nehmen die als Gipfelmarkierung. Sieben Stunden haben wir mit Pause hierher gebraucht. Der Rother rechnet 7h ohne Pause. Wir sind stolz wie Bolle.

Im Nebel tauchen immer mal wieder solche Säulen auf.

Bis wir die „richtige“ finden dauert es etwas. Hier finden wir auch die Touris die inzwischen zahlreich auf dem Gipfel im Nebel herumirren.

Offizielle Säule der Ordnance Survey. Hier ist oben 😁

Es wird uns schnell zu voll, wir trinken unser Gipfelschnäpschen und suchen den Abstiegsweg. Aus dem Nebel tauchen die Ruinen des Observatoriums auf.

Immer den entgegenkommenden Touristen entgegen ist es nicht schwierig den richtigen Weg zu finden. Entlang von Steinsäulen führt er über das Plateau und dann durch ein riesiges Schotterfeld in Richtung Tal. Einige Serpentinen später nähern wir uns dem unteren Rand der Wolke, die langsam den Blick in‘s Tal freigibt.

Es sieht fast nach Sonnenschein aus? Kann das sein?

Kaum zu glauben, während wir oben im Nebel, Regen und Wind unterwegs waren, scheint unten die Sonne.

Das Half-Way-Loch kommt in Sicht, wir wähnen uns schon fast am Ziel.

Ab hier ist der Weg treppenartig ausgebaut, trotzdem brauchen wir noch knapp 2 Stunden bis ins Tal.

Schicht für Schicht trockenen unsere Klamotten und werden nach und nach abgelegt. Sobald eine Schicht trocken ist, kommt sie in den Rucksack und die darunterliegende Schicht ist mit trocknen dran.

Ein letztes Mal die müden Beine heben, dann sind wir am Bus. Erstmal aus den nassen Schuhen raus, die sind bis unten nicht getrocknet.

Sind uns schon Schwimmhäute gewachsen?
Rehydrierung

Tour geschafft und mit Pause nach genau 10h wieder am Bus. Top Leistung. Das kühle Bierchen haben wir uns verdient.

Wir fahren noch ein kleines Stückchen zu einem Hotel am Wasser. Wenn man dort ist, darf man kostenlos auf dem Parkplatz direkt am See übernachten.

Da unsere Küche in Ermangelung von Gas kalt bleibt, trifft sich das ziemlich gut. Das Essen ist noch dazu wirklich lecker. Nach der Tour hätte uns vermutlich aber auch Katzenfutter gut geschmeckt.

Wir sind allerdings wohl etwas geschafft. Die Augen wollen einfach nicht offen bleiben. Ich versuche noch den Blog weiterzuschreiben, sehe aber schnell ein dass das nichts wird.

Was für eine Tour! Ein schöner Höhepunkt des Urlaubs auf dem höchsten Berg in Britain. Aber das schönste ist, dass wir das Erlebnis teilen können. Gepäck und Verantwortung tragen war zwar nicht einfach, hat sich aber ausgezahlt. Ohne die Tour hätte was gefehlt, da bin ich mir ziemlich sicher.

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